Mein erster Selbstmord von Carola Wolff [REZENSION]

Oktober 24, 2017



Die Helden: Maxi Winter und Grant Buchanan. Sie, Kinderbuchautorin, schokoladensüchtig, rotweinverliebt, manisch-depressiv. Er, Einbrecher auf Rente, Brite, Hobbykoch mit Ambitionen. Der Ort: eine heruntergekommene Villa in Berlin Zehlendorf. Die Zeit: eine Nacht kurz vor Halloween. Maxi beschließt, ihre Welt anzuhalten. Mittels eines Schweizer Taschenmessers. Grant, der sie findet, beschließt, sie nicht sterben zu lassen. Beide beschließen, einander zu hassen. Vorerst. Warum Sie diesen Roman lesen sollten? Wenn Sie immer schon mal wissen wollten, aber sich nicht zu fragen trauten: Wie sich manischer Sex anfühlt. Warum die englische Küche besser ist als ihr Ruf. Was passiert, wenn man vom Europa Center springen will. Und wenn Sie auf Sex, Drugs and Rock n’Roll stehen (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge).


Dinge, die einem klaren sein müssen,
ehe man zum Buch greifen will:

Der Titel schreckt euch ab, das Thema gibt einem dann den Rest und ihr schaut vielleicht kein zweites Mal auf das Buch. Stimmt doch, oder?! Aber wieso eigentlich?
Ist es abschrecken, wenn eine psychisch instabile Frau als Hauptprotagonistin eingesetzt wird, die einfach nicht mehr leben möchte? Kann es sein, dass die wahre Angst bei solchen Büchern nicht einfach darin besteht, dass man sich am Ende mit dem Protagonisten identifizieren könnte? Und falls ja: Was ist so schlimm daran?
Oder habt ihr einfach nur keine Lust, euch das gejammere solcher Menschen in Büchern durchlesen zu müssen? Ich ehrlich gesagt auch nicht – und ich kann euch beruhigen:
Das wurde hier nicht gemacht.

Hier überließ die Autorin ihrer Protagonistin die Hauptrolle. Legte ihr die komplette Verantwortung in die Hände - achtete darauf, dass das Scheinwerferlich nur auf diese eine Figur gerichtet wurde: Maxi Winters.
Diese zeigte während ihrer Vorstellung, was in ihrem Leben alles schiefgelaufen ist. Was alles hätte anders kommen sollen. Wie ihre Gefühlswelt nach und nach zusammenbrach und sie sich schon längst vom Leben verabschieden wollte. Und das wirkungsvoll in nur wenigen Seiten.

Maxi Winter war eine erfolgreiche Schriftstellerin. Besaß früher alles. Veröffentlichte zwei überaus erfolgreiche Romane und brachte sich dadurch einen ansehnlichen Ruf, jede Menge begeisterte Fans und Geld ein. Erfolg, auf den man automatisch neidisch wird. Talent, das man selbst gerne besitzen würde. Doch sowas hat auch seine Schattenseiten, die wir „Normalen“ gar nicht sehen. Nicht auf den ersten Blick. Der Druck kann zu groß werden oder es bricht eben wie bei Maxi diese Krankheit aus. Eine Krankheit, die fortan ihr Leben bestimmt. Die sie dazu zwingt, Medikamente einzunehmen, die ihr helfen sollen, damit klar zu kommen.

Sie ist seit einigen Jahren bipolar. Ein Wort, dass ich erst mal googeln musste, und selbst nach dem googeln kann ich mir nur schwer vorstellen, wie sie damit leben kann. Oder wie sie es lange damit geschafft hatte. Wie die Autorin es so für mich überzeugend genug darstellte und es mit dem Leben und Gefühlen ihrer Protagonistin verband. Es ist eigentlich grausam, was Carola Wolff da mit Maxi tat. Denn genauso wie ihre Erschafferin ist Maxi eine Autorin und erschafft selbst Charaktere. Charaktere, die mit ihr sprechen, oder es zu mindestens VOR der Krankheit und den Tabletten taten.

Denn zu Maxis Leidwesen verliert sie durch Krankheit und Medikamente ihre Leidenschaft zu schreiben. Das Bedürfnis weiterzumachen, die Muse für die Ideen – es verlässt sie einfach. Kommt nicht mehr zurück. Und das seit Drei Jahren. Dafür ziehen Zweifel und Depressionen in ihrem Arbeitszimmer ein und fressen sie Jahr zu Jahr innerlich auf. Bringen sie dazu, sich etwas anzutun – sich aufzugeben. Sie schafft es einfach nicht mehr, ihren dritten Band fertig zu stellen. Sie sieht ihre Charaktere nicht mehr wie zuvor, sie zweifelt und letzten Endes verfällt sie vollkommen diesem innerlichen Dämon. Und sie findet sich damit ab, lässt endgültig los. Bis Grant bei ihr Einbricht und ihr das Leben rettet. Aber wie kann man sowas Leben nennen, wenn die Aussicht auf den Tod so viel schöner als die aktuelle Gegenwart erscheint?

Ist es so verkehrt, wenn ein Autor diese Schattenseite offenbart und dem Leser etwas liefert, das mal nicht die frohe heile Welt beschreibt?
Denn so froh ist nie wirklich jemand– so toll ist die Welt nicht. Und genau das hat Carola Wolff hier ehrlich und ohne Scham präsentieren wollen. Ausdrücke und vielleicht nicht schön „auszudenkende“ Tatsachen wurden auf den Tisch gelegen.

Und das herausragende dabei, das, was mich sprachlos machte, war nicht nur die Handlung an sich.
Nein, das, was hier wirklich entscheidend war, das, was aus Maxi erst das gemacht hat, was sie war: Die Autorin selbst.

Carola Wolff besitzt einen außergewöhnlichen Wortschatz, bei dem ich mich wie „Alice im Wunderland“ fühlte und aus dem Staunen nicht mehr rauskam. Da gab es einfach ALLES – und nichts klang, wirkte gewöhnlich.
Nichts wiederholte sich, nichts war bedeutungs – und gefühllos. Alles war so anders, dass ich in den Strudel, den Carola Wolff da erschuf, blindlings hineinfiel und erschreckend feststellen musste, dass es mich mehr faszinierte als verängstigte. Denn ich sollte das nicht faszinierend finden, sollte nicht das Durcheinander in Maxis Leben und Kopf in mir aufsaugen. Aber Carola Wolff ließ mir keine Wahl.

Meine Bewunderung für solch einen Umgang mit seinem eigenen Schreibstil kann ich euch mit meinen bescheidenen Schreibstil niemals umfassend näherbringen. Aber es ist nach dem Lesen ihres Buches Fakt, dass Carola Wolff ihr Handwerk versteht.

Gerade, wenn man die schwere Thematik mit der Krankheit betrachtet. Die Autorin bewegte sich damit auf eine sehr, sehr gefährliche Ebene. Sowas an den Leser zu bringen – und zwar richtig – ist NICHT leicht, bringt bei falscher Zielgruppe vielleicht auch nicht erfreuliche Nebenwirkungen mit sich. Ich habe ähnliche „depressive“ Charaktere erleben dürfen und das nur annährend so zu vermitteln, dass es den Leser nahe geht und es glaubhaft und NICHT nervig erscheint, ist für mich ein SEHR schwer zu erreichendes Ziel. Ich kann natürlich nicht wissen, ob das, was Maxi da fühlt und durchleidet, wirklich so ist bei Menschen mit dieser Krankheit/Störung. Aber die Autorin hat Maxi durch viele „Phasen“ leiden lassen, sodass sich automatisches Verständnis und Nachvollziehbarkeit bei mir entwickelte. Falls ich es noch nicht direkt genug gesagt habe:
Die Autorin hat es drauf.

Ich zitiere hier einfach mal aus Wikipedia:

Die bipolare affektive Störung ist durch einen episodischen Verlauf mit depressiven, manischen, hypomanischen oder gemischten Episoden gekennzeichnet:
  
Depressionen zeichnen sich durch überdurchschnittlich gedrückte Stimmung und verminderten Antrieb aus. Bei starken Depressionen kann es zu Suizidgedanken kommen.
  
Eine manische Episode ist durch gesteigerten Antrieb und Rastlosigkeit gekennzeichnet, was oft mit inadäquat euphorischer oder gereizter Stimmung einhergeht. Dabei ist die Fähigkeit zur Prüfung der Realität mitunter stark eingeschränkt, und die Betroffenen können sich in große Schwierigkeiten bringen.

Unter einer Hypomanie versteht man eine nicht stark ausgeprägte Manie, typischerweise ohne gravierende soziale Konsequenzen. Eine Hypomanie liegt jedoch bereits deutlich über einem normalen Aktivitäts- und/oder Stimmungsausschlag.

Eine gemischte Episode ist gekennzeichnet durch gleichzeitiges oder rasch wechselndes Auftreten von Symptomen der Manie und der Depression. Beispielsweise trifft ein verstärkter Antrieb mit einer gedrückten Grundstimmung zusammen.[1]

Quelle: wikipedia.de 

Maxi Winter ist eine Protagonistin, die ich vollkommen – mit all ihren abgegriffenen Ecken und beschädigten Kanten – fühlen und verstehen konnte. Mit der ich auf Deutsch und Englisch mitfluchte, Grant verjagen und wieder zurückholen wollte. Mit der ich gemeinsam in ihrem Arbeitszimmer saß und mit völlig leeren Ausdruck in den Augen den Bildschirm anstarrte. Der Bildschirm ihres kleinen Notebooks, der darauf wartete, mit Wörtern befüllt zu werden. Wörter, die einfach nicht mehr da waren, nicht mehr zu ihr durchdringen wollten.

Gemeinsam stand ich mit Janus, ihre selbst erfundenen Figur aus ihrem Roman, am Fenster und predigte Maxi die Wichtigkeit der Schreiberei um die Ohren, nur um mich später an Maxis Seite wieder zu finden und mit ihr gegen Janus Ansicht zu diskutieren.

Was ich damit sagen will:
Hier wurde eine Protagonistin erschaffen, die unumstritten beim oberflächlichen Betrachten keinen schönen Anblick darbot. Die man nicht leiden konnte, von der man sich einfach nur fernhalten möchte. Doch die Autorin brachte sie mir in ihrer Geschichte näher und ich kam dadurch nicht umhin, mich ihr verbunden zu fühlen. Sie zu mögen, trotzt all ihrer Fehler.
Fehler, die ihr eigentlich gar nicht gehörten.
Ich erkannte den Dämon und schaufelte gemeinsam mit Grant die RICHTIGE Maxi nach und nach frei. Und es hat sich für uns beide gelohnt.


Missverstanden und vielschichtig – genau so werde ich Maxi in Erinnerung bewahren und möchte mich bei der Autorin für diesen erfundenen Charakter bedanken. Er ist so anders – und das gewollt. Man muss sie einfach mögen.




Da mache ich nicht lange rum und vergebe nicht nur 5 Glitzerhaufen! Außergewöhnliches wird bei mir niemals zu etwas Gewöhnlichem gemacht. 

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