Gottes Zirkus von Robert Odei [REZENSION]
Mai 08, 2017
Robert Odei präsentiert eine Auswahl fabulöser Geschichten
von Belang – auf das vortrefflichste dazu geeignet, eine der Fragen des
alltäglichen Lebens zu beantworten:
1. Was passiert, wenn ich als Vollsoziopath versuche, die
Welt zu retten.
2. Welches Schicksal droht mir, wenn ich mir in meiner Gier
nach Gold einen alten Indianerfluch zuziehe?
3. Welches Opfer bringe ich für ein sorgenloses
Künstlerleben?
4. Hat sich Lili alles nur ausgedacht?
5. Wie rette ich als abtrünniger Priester eine Herde
Ungläubiger?
6. Wie weit geht die Magie der Freundschaft?
7. Wie vermittle ich einem Soziopathen meine Vorstellung von
Moral, wenn ich ein kaltherziger Mörder bin?
8. Was passiert, wenn ich zu lange im Haus herumhocke?
9. Ist Kürbis wirklich ungesund?
Wenn Sie eine dieser Fragen mit „ja“ beantworten können, haben
Sie nicht verstanden, worum es geht. Sie sollten die fabulösen Geschichten von
Belang ignorieren und ohne Aufhebens weitergehen.
Ein in meinen Augen sehr weiser Autor schrieb mir einmal:
»
Die Arbeit an meiner Ausdrucksweise ist mir wichtiger, als irgendwelche
Versuche, spannende Inhalte zu konstruieren. «
Der Autor hatte mich
schon seit seinem Debütroman „Der Traum des Stiers“ an der Angel und „Gottes
Zirkus“ gab mir so gesehen keine Möglichkeit, ihm zu entkommen.
Letzten
Endes ein Opfer meiner selbst war jeglicher Widerstand
zwecklos. Und so wurde ich mit einer Thermoskanne in der Hand auf meinen
Zuschauerplatz zurechtgewiesen.
Erste Reihe, die Bühne direkt vor mir.
Hinter meinem Platz waren Indianer, deren Anwesenheit mir aus
einem mir unbekannten Grund einen Schauer über den Rücken laufen ließen.
Jegliche Versuche oder auch nur Gedanken an eine Flucht waren
zwecklos: Ich fand mich am Ende jedes Mal auf meinem Platz wieder.
Mit der Thermoskanne in meiner Hand.
Irgendetwas stimmte mit diesem Zirkus nicht.
Ehe aber
meine Gedanken weiter darüber spekulieren konnten, hörte
ich das Geplapper mehrerer Kinderstimmen durch das Zelt hallen. Mein Kopf
wanderte automatisch nach links und ich erblickte die Quelle der Geräusche:
Eine Grundschulklasse, die gerade das Zelt betrat und die
sich umgehend auf die freien Sitzplätze in der Mitte stürzten.
Natürlich mit großen Abstand von den Indianern hinter mir.
Verüble ich ihnen nicht, würde ich genauso machen, wenn ich´s könnte. Die
Thermoskanne während meinen Beobachtungen natürlich immer fest im Griff.
Sicher ist sicher.
Einzig und allein ein kleines Mädchen und eine Frau, die
anscheinend die Lehrerin der Klasse war, blieben noch an der Seite stehen. Dem
Anschein nach hielt sie ihrer Schülerin irgendeine Standpauke und das Mädchen
schien nicht wirklich die Absicht zu haben, sich demnächst vom Fleck zu rühren.
Die einzigen Fetzen, die ich aus dem Gespräch mitbekommen hatte, waren Pirat
und U-Boot.
Mehr bekam
ich nicht mehr mit, da meine Nase einen echt miesen Geruch auffing.
Der Mann, der sich gerade zu meiner rechten hinsetze und
seine Arme streckte, stank so dermaßen, dass ich mich beinahe in meinem Sitz
übergeben hätte.
Was zum Henker ist dem bitte unter die Achseln gekrochen? Der
Geruch grenzte ja schon an teuflische Magie.
Das Ambiente dieses Zirkus mit all seinen Eindrücken und neu
auftauchenden Besuchern wurde immer erdrückender für mich. In solchen Momenten
wünschte ich mir, dass die Leute mehr Anstand und Erziehung hätten und mir den
sechs Stunden langen Auftritt hier nicht verderben würden.
Aber Moment mal – ich war doch gar nicht freiwillig hier.
Oder doch?
Himmel, was macht dieser Zirkus nur mit meinem Verstand?
Werde ich von ihm gesteuert?
Vielleicht
sollte ich mir selbst eingestehen, dass die Schuld ganz alleine
bei mir lag.
Wie blöd kann auch einer sein, ausgerechnet an Halloween in
ein mehr als mysteriös wirkendes Zirkuszelt zu gehen, um sich dort eine Show
anzusehen, von der man vorher noch nie gehört hatte? Nach einer kurzen Zeit
beruhigte ich mich wieder, auch wenn mein Verstand versuchte, mich vom
Gegenteil zu überzeugen. Vielleicht lag´s aber auch nur an dem fast vollen
Sitzreihen, die die ganze Situation irgendwie friedlicher wirken ließen. Genau,
das musste es sein. Also entspannte ich mich, verbannte meine Paranoia in den
Kofferraum meines Verstandes und versuchte, die kommenden Auftritte einfach zu
genießen. Mir blieb ja eh nichts anderes übrig.
Als das
Licht gedämmt und die Vorhänge auf der Bühne aufgezogen wurden
und ein dürrer, alter Mann die Bühne mit einem Kürbis auf seinem Kopf betrat,
sah ich mich schon am Anfang meines Endes im Publikum dieser abstrakten
Geschichten wieder.
Laddd-ys
und Gentelmannn-s, ich bitte sie, sich zu entspannen, Handys auszuschalten und
ihren Blick stetttt-s auf die Bühne zu richten. Sollteeee-n sie auch nur
annähernd den Blick abwenden oder sich den Anweisungen des Erzählerrrr-s
widersetzen, bleibt mir nichts anderes übrig, als das Programm anzuschalten.
Also hören sie auf meinen Rat:
Bleiben sie
sitzen und den Blick stets auf die Bühne gerichtet. Und immer schön die
Thermoskanne fest im Griff haben. Ich bedanke mich für ihre Aufmerksamkeit und
wünsche ihnen viel Spaß bei unseren kommendeeeee-n Neun Auftritten
1. Der Gärtner in uns
….oder die gottverdammte Thermoskanne. Noch ehe der Leser den
ersten Absatz liest, steckt er schon in der ganzen Sache mit drin. Kein
umkehren mehr möglich und mit Sicherheit auch kein Ende in Sichtweite. Der
Leser weiß hier am Anfang gar nicht, wo genau er da mit reingezogen wurde. Und
das ist nämlich das Besondere an dieser Geschichte: Die Erzählform.
Die wendet sich nämlich direkt an den Leser. Humor,
Sarkasmus, Eigeninitiative und das seltsame Gefühl, dass der Protagonist die
Gedanken des Lesenden kennt: Das alles erwartete mich hier und ich war hellauf
begeistert.
Daher ist diese Geschichte mein Favorit in diesem Band. Die
Handlung an sich ist vielleicht nicht spektakulär, aber darum geht’s bei den
ganzen Geschichten nicht wirklich. Hier spielt nur die Art und Weise, wie es
beschrieben und niedergeschrieben wurde, eine Rolle.
Der Rest entwickelt sich dann wie von selbst. Klingt seltsam?
Dann solltet ihr mal
dringend in Gottes Zirkus eine Vorstellung besuchen. Ihr werdet es anschließend
verstehen. Aber bitte die Thermoskanne nicht vergessen.
2. Der alte Feind
Indianer & Cowboys – und jede Menge Wüste. Eigentlich so
gar nicht meine Show, aber die Künstler darin waren einfach glaubhaft und
interessant. Die Vorstellung fing harmlos an, steigerte sich dann mit einem
interessanten Aberglauben und lieferte mir einen ordentlichen Showdown zum
Schluss. Aber der Schauer, der während der Show meinen Rücken hochkroch…
Irgendwie wollte er einfach nicht wieder verschwinden. Und das, obwohl die
zweite Vorstellung schon vorbei war.
Mein Verstand riet mir, noch einmal einen Blick hinter mich
zu werfen.
Die Indianer auf der Bühne kamen mir nämlich sehr bekannt
vor…
3. boheme
Wer hasst denn Arztbesuche nicht? Erst recht, wenn der Arzt
an einer sehr intimen Stelle seine Untersuchungen durchführen muss. Aber darum
geht’s eigentlich gar nicht. Viel interessanter ist der mysteriös wirkende
Patient, der irgendwie an Blackouts zu leiden scheint. Nach seinem Arztbesuch
trifft er dann draußen eine noch seltsamere Person als sich selbst. Ab dem
Moment dieses zufälligen (?) Aufeinandertreffen ist jegliches Handeln der
beiden vorprogrammiert.
Wortwörtlich gesehen. Wie immer gut und spannend beschrieben
und alles andere als Mainstream. Das Ende regt zum Nachdenken an und debattiert
mit dem eigenen Verstand um eine logische Schlussfolgerung. Auch mal wieder so
ganz anders, aber das überrascht mich bei dem Autor schon lange nicht mehr.
4. Lili Maus - kurz
5. Lili Maus - lang
Diese beiden Show´s sind ein und dieselbe, nur ist die zweite
länger. Wieso, weshalb und warum erklärt der Autor auf der Bühne mit seinen
Anmerkungen am Anfang. Wie auch bei den anderen Geschichten war es ein
Auftritt, der für einen Wettbewerb geschrieben wurde.
Das Thema war „Katz und Maus“. Und das kleine Mädchen lernt
während dem Aufsagen ihres Aufsatzes eine wichtige Lektion fürs Leben. Das
Thema wurde vom Autor mal wieder so ganz anders umgesetzt als es mit Sicherheit
die anderen Teilnehmer getan haben. Und das ist auch gut so – ich stehe auf
anders und ganz besonders auf das anders, was der Autor mit seinen Geschichten
erschafft.
6. Gottes Zirkus
Ein Zirkus im Zirkus.
Der Direktor: Ein Pfarrer.
Die Show-Darsteller: Gehandicapte Menschen.
Das Ziel: Denn Sinn des Lebens wieder finden. Oder die Suche
nach Gott? So genau weiß das selbst keiner in der Gruppe – steht doch
Selbstmitleid an der Tagesordnung. Das der Priester hier endlich die Schnauze
voll von hat und etwas dagegen unternimmt, ist daher mehr als verständlich. Der
Auftritt war okay – mich faszinierte aber dann doch mehr die Art und Weise, wie
es niedergeschrieben und beschrieben wurde. Auch das Ende war recht eigen. Man
kann sich wie bei fast allen Shows dieses Autors eben seinen eigenen Teil
denken. Und darauf stehen meine Gehirnzellen. ;)
7. Ed
Die Geschichte sollte diese Voraussetzung erfüllen: Sie muss
im Rhein-Main-Gebiet spielen und sie muss Magie beinhalten. Robert Odei steht
aber nicht so auf Hokus Pokus Fidibus und interpretiert auch hier wieder seine
eigene Sichtweise von Magie. Ich wurde am Anfang nicht schlau daraus und auch
am Ende bildeten sich einige Nachdenkfältchen auf meiner Stirn. Die eigene
Interpretation des Autors von Magie habe ich denke ich schon verstanden (wobei man
bei Robert Odei nie so ganz sicher sein kann) aber es war dann doch eher…hm.
Nicht so toll wie die anderen Geschichten, was die Handlung angeht. Diese
Geschichte las sich dennoch angenehm für mich, auch wenn die Idee an sich mich
nicht von den Latschen reißen konnte.
8. Eine Lektion in Moral
Action- & einfallsreich. Ein Soziopath, der eigentlich
seine letzten sechs Stunden in den USA bei einem schönen, saftigen Steak in
einem angenehmen Restaurant genießen möchte. Dummerweise stört und widert ihn
eine weinende Frau am Nebentisch an. Und da er dieses, in seinen Augen,
schlechte Benehmen nicht tolerieren kann, setzt er sich zu ihr und ab da tickt
die Uhr für ihn. In welcher Art und Weise kann der Leser gespannt miterleben.
Ich fand alle Charaktere hier höchst interessant und hab mich
wieder mal gut unterhalten gefühlt.
9. Sinistra
Huren tummeln sich auf einer Straße vor dem Haus eines
Mannes, der seit Jahren sein Haus nicht wirklich verlassen hatte. Viel zu sehr
seinem eigenen Wahn verfallen, verrottet er Tag aus Tag ein in seiner Wohnung.
Eines Tages aber blickt er aus seinem Fenster und entdeckt dort auf den Straßen
vor seinem Haus ein Weibsbild, dessen teuflische Augen und starrer Blick ihn
seitdem jagen und wortwörtlich noch tiefer in den Wahn treiben. In welcher Zeit
auch immer diese Geschichte angesiedelt ist, spielt keine Rolle. Der Autor
fokussiert sich auf seine Charaktere und die Art und Weise, wie sie mit Wahn
und Wirklichkeit umgehen.
Ich glaube, dass ich immer noch nicht so ganz verstanden
habe, was da eigentlich vor sich ging. Aber die psychische Ebene eines Menschen
ist ohnehin eine eigene Sache für sich und kann niemals so ganz verstanden
werden. Robert Odei hat offensichtlich ein starkes Händchen dafür, auch wenn
ich mir hier mehr Charme in der Geschichte wie bei seinen anderen Geschichten
gewünscht hätte. Diese Story war für mich persönlich einer der Schwächsten im
Buch.
Anderseits aber war es für mich wieder interessant gewesen,
weil sie so GANZ anders als die vorherigen waren.
10. Winter Squash
Mein zweiter Favorit – und das, obwohl die Geschichte eine
der kürzesten im gesamten Buch ist. Auch hier wird die psychische Ebene auf
eine ganz andere Art und Weise demonstriert. Wieder ein Arztbesuch und ein
Mann, der denkt, dass er sich in einen Kürbis verwandeln wird. Ich fand die
Idee wirklich klasse und auch das Ende dazu hätte besser nicht sein können.
Minimal erzählt – aber dafür genau die richtige Menge an Text. Solche
Aufführungen wie diese sind immer der beste Abschluss zum Ende und ich konnte
nur applaudierend aufstehen und zusehen, wie die Show damit beendet wurde.
Geduldig, mit getrockneten Augen, die von Anmerkung zu
Anmerkung immer weniger blinzeln wollten, aus Angst, etwas wichtiges zu
verpassen, wartete ich auf jede neue Ansage, die Geschichte für Geschichte
ankündigte.
Und jede Ankündigung versprach mir aufs Neue, dass es noch
lange nicht vorbei sein wird. Ich fand daher diese Anmerkungen vor jeder
Geschichte mit den Erklärungen, wie sie entstand, was die Hintergründe dazu
waren wirklich klasse.
Ich konnte so einen ordentlichen Einblick hinter die Kulissen
werfen und beobachten, wie der Autor die Themenvorgaben umgesetzt hatte. Diese
insgesamt eigentlich nur 9 Auftritte in meinen Worten zu beschreiben und dabei
immer im Hinterkopf zu haben, dass ich die Worte, die der Autor niederschrieb,
nie so ganz nachvollziehen und erklären kann.
Es war keine leichte Sache.
Robert Odeis Art und Weise, die Dinge wahrzunehmen, sie neu
zu interpretieren und auf seiner Bühne zu präsentieren wird nicht jedermanns
Sache sein. Aber ich bin Gott sei Dank nicht jedermann und habe jedes Mal einen
grandiosen Spaß, einer seiner Shows aus der ersten Reihe bestaunen zu dürfen.
Mit selbstverständlich einer Thermoskanne in meiner Hand. Sicherheit ist hier
das A und O.
Was auch immer im Kopf vom Robert Odei so alles rum spukt:
Der Leser will es nach dem Lesen seiner Bücher/Geschichten einfach wissen. Denn
die Geschichten sind nur das Bühnenbild und Robert Odei ist die komplette
Besetzung.
Man sieht neun verschiedene Auftritte und könnte schwören,
dass diese von Neun verschiedenen Autoren erzählt werden. Ich weiß, wovon ich
da rede, denn ich saß bei jeder seiner öffentlichen Vorstellung in der ersten
Reihe.
Denn egal, was man nach dem Beenden einer seiner Shows denkt:
Beim Zuschauen des nächsten Auftritts denkt man sich das komplette Gegenteil.
Wie ein Chamäleon verändern sich Schreib- und Erzählstil und die Handlungen
nehmen eine andere Richtung als die vorherigen an. Seine Umsetzung der
verschiedenen Wettbewerbsthemenvorgaben sind allesamt anders. Anders und
vielleicht nicht immer perfekt, aber das war sicherlich auch nicht das Ziel des
Autor.
Sein anders ist ein
stetiger, neuer Auftritt und ich durfte der Zuschauer sein, der jede Sekunde
seiner Bühnendarstellung verschlingen konnte.
Lange saß ich mit meiner Thermoskanne in der Hand noch auf
meinem Platz, auch wenn die gesamte Show schon längst vorüber war.
4 oder 5?
Was bewertet ein Zuschauer wie ich, bei dem nicht alle
Auftritte seinen Geschmack trafen?
Letzten Endes fand ich mich wie von einem Programm
ferngesteuert die Zahl 5 eingeben. Ich kann mich nicht gegen das Talent dieses
Autors wehren. Wie gut, dass wenigstens die Thermoskanne mich nicht zu
kontrollieren scheint.
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